Leseprobe Band 2

„Schattensaga – Timeout“

Vogelgezwitscher, ein vorbeifahrendes Auto, ein angenehmer Luftzug … Das  waren die ersten Dinge, die ich an diesem Morgen beim Aufwachen wahrnahm. Für diese Jahreszeit war es eindeutig viel zu warm. Es war zwar schon Ende Oktober, aber trotzdem herrschten immer noch Temperaturen von rund 25 Grad. Verschlafen drehte ich mich zur Seite in Richtung des Fensters. Der Vorhang wurde durch einen weiteren Windstoß ins Innere des Zimmers geweht, bevor ich mich aufrappelte und träge den offenen Fensterflügel schloss. Schon wieder eine Nacht, in der ich nicht gut geschlafen hatte. In letzter Zeit häuften sich meine Schlafprobleme. Vielleicht lag es aber auch nur an den ungewöhnlich hohen Temperaturen. Müde schleppte ich mich ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn voll auf und hielt meinen Kopf darunter. Das kalte Wasser ließ mich wach werden. Es war eine herrliche Erfrischung nach der unangenehmen Nacht.

Später, als ich im Bad fertig war, kam ich zurück ins Wohnzimmer, während ich mir die Haare mit einem Handtuch abtrocknete. Ich hängte es mir einfach über die Schultern und zog mich anschließend um. Noch ganz geistesabwesend nahm ich meine Tasche, hängte sie mir um die Schulter und verließ dann meine leider immer noch unaufgeräumte Wohnung. Draußen war es warm, die Sonne hatte trotz dieser Jahreszeit und der frühen Uhrzeit immer noch viel Kraft.

„Also dann …“, murmelte ich, zog den Gurt meiner Umhängetasche zurecht und lief im nächsten Moment auch schon los. Es war die erste Herausforderung, der ich mich tagtäglich stellte. Sie bestand darin, pünktlich an meiner Arbeitsstelle zu erscheinen. Ich nutzte das tägliche Morgenjogging auch dazu, mich fit zu halten. Außerdem schüttelte es den Rest der Müdigkeit ab.

Nach und nach nahm der Verkehr zu, der Rest der Stadt wachte langsam auf, und als ich fast an meinem Ziel angekommen  war, herrschte bereits reger Betrieb. Ich ließ die Stadt hinter mir und betrat den Wald, der damals abgebrannt war. Nun herrschte wieder Leben in ihm. Kleine Setzlinge wuchsen aus der Erde heraus, ebenso wie größere Bäumchen, die von Menschenhand eingepflanzt worden waren.

„Morgen“, begrüßte ich meine Kollegen, die mir am nächsten waren. „ Morgen, Kay !“, wurde ich zurückgegrüßt. „Der Chef will dich sehen, er hat was mit dir zu besprechen“, informierte mich gleich ein anderer. „Ist gut, bin schon unterwegs“, sagte ich, während ich mich tatsächlich schon auf den Weg machte.

Bis hierher hatte ich es also geschafft: Ich war nun zum Gärtner mutiert.

Ich und andere Freiwillige aus Pine Heaven hatten sich vor einiger Zeit zum Wiederaufbau des Waldes und der Stadt gemeldet. Seitdem arbeitete ich hier. Mit vereinten Kräften und der Hilfe von außerhalb hatten wir die Stadt in den vergangenen eineinhalb Jahren wieder aufgebaut, nachdem nur noch Trümmer  von ihr übrig geblieben waren. Jetzt war der Wald an der Reihe. Das abgestorbene und verkohlte Holz hatten wir beiseitegeräumt. Wir hatten neue Setzlinge gepflanzt, Sträucher eingesetzt und auch sonst alles dafür getan, dass nach dem großen Brand vor fast zwei Jahren wieder Leben in dieses Ödland kam. Tatsächlich, knapp zwei Jahre war es nun schon her …

„Kay, da bist du ja!“, wurde ich von meinem Chef begrüßt. „Guten Morgen“, erwiderte ich. „Vorhin ist der Baum geliefert worden, den du unbedingt wolltest. Sieh ihn dir mal an“, informierte mich mein Vorgesetzter sogleich. Wir mussten nicht weit gehen, bis wir vor besagtem Baum standen, der sich noch auf dem Laster befand. Ich sah hinauf in die prächtige Krone und schaute dabei zu, wie sich die Blätter im Wind wiegten. Der Stamm war stark und mächtig, ebenso wie die Wurzeln.

„Na, was sagst du?“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Er ist perfekt“, murmelte ich, während mein Blick immer noch auf diesem Baum ruhte. „Na, dann lass ihn uns mal einpflanzen. Los, an die Arbeit!“, grinste mein Chef und klopfte mir dabei auf die Schulter. Mit einem Lächeln wandte ich mich ab und sorgte anschließend dafür, dass der riesige Baum an die richtige Stelle gebracht wurde. Bei den Planungen hatte ich auf so einem bestanden. Ich wollte, dass der Wald wieder so wurde, wie er einmal war. An der Stelle, wo sich zuvor die hölzerne, brüchige Hütte und der geheime  Bunker befunden hatten, die ebenfalls dem Flammen zum Opfer gefallen waren, sollte fortan dieser Baum stehen.

„Vorsicht!“, rief ich, als der Baum zu kippen schien. „Auf der rechten Seite weiter runter, langsam!“, gab ich die nächsten Anweisungen. „So ist’s gut, ein Stück noch! Und jetzt lasst ihn runter!“  Und dann, nach weiteren Minuten, war der Baum nun an der Stelle, an der er hingehörte. „Gut gemacht, Leute! Kurze Pause, dann kommt die Erde“, fuhr ich fort. Daraufhin trennte sich die Schar an Leuten, die sich versammelt hatte, und ging in die Pause. Ich jedoch blieb an Ort und Stelle stehen, drehte mich zu dem Baum um und sah erneut in die prachtvolle Krone hinauf.

„Gut gemacht, du hast echte Führungsqualitäten und ein gutes Auge!“, wurde ich wieder aus meinen Gedanken gerissen. „Vielen Dank, aber so gut bin ich gar nicht“, beteuerte ich. „Aber jetzt verrat mir doch mal, wieso dir dieser Baum so verdammt wichtig war. Du hast ja ganz genau gewusst, was du willst“, sagte mein Chef. „Früher war ich oft hier, genau an dieser Stelle. Dieser Ort hat wohl so etwas wie einen sentimentalen Wert für mich“, antwortete ich mit einem sanften Lächeln. „So was kenne ich“, lachte mein Chef . „Meine Tochter hat immer noch dieses Stofftier, das sie damals zu ihrem fünften Geburtstag bekommen hat. Mittlerweile ist sie 14, aber sie hat es immer noch. Ist wohl auch ein sentimentaler Wert für sie.  Aber so ist das.“ Er zuckte mit den Schultern und machte sich dann wieder an die Arbeit.

„Ja, ein sentimentaler Wert …“

 

Es war Mittag, als ich mich in den neu angelegten Park zurückzog. Die Zerstörung der Stadt hatte schließlich auch etwas Gutes gehabt: Nun, da alles wieder aufgebaut war, war alles noch schöner als zuvor. Dieser Park beispielsweise hatte vorher gar nicht existiert. Vereinzelt waren große Bäume gepflanzt worden, die im Sommer einen wunderbar kühlen Schatten spendeten. In der Mitte dieser Anlage gab es einen See, auf dem immer Enten zu finden waren. Manchmal kam ich gern spät abends her und beobachtete sie, wenn sie auf dem orange leuchtenden Wasser ruhten. Es war ein Anblick, der mir aus irgendeinem Grund ein gutes Gefühl gab. Weiter draußen, am Rande des Parks, gab es nun auch einen Spielplatz für die Kinder. Nachmittags war von dorther immer ein fröhliches Lachen zu hören. Es gab eigene Rad- und Spazierwege, die quer durch den ganzen Park führten. Seltsamerweise hatte niemand nachgeforscht, weswegen die Stadt überhaupt zerstört worden war. Irgendwann hatten die Leute einfach aufgehört, Fragen zu stellen, und mittlerweile war Gras über die Sache gewachsen. Trotzdem war es nicht unbemerkt geblieben, dass die einstige Heldin seither nicht mehr aufgetaucht war. Im Glauben, sie hätte bei dem großen Angriff ihr Leben gelassen, hatten die Einwohner Pine Heavens eine große Statue zu ihren Ehren errichtet, welche mich tagtäglich an meine Schuld erinnerte. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten …

Ich setzte mich unter einen der Bäume und lehnte mich an seinen warmen Stamm. Es war schön, hier zu sein. Hier kam ich immer zur Ruhe. Hier schlief ich auch oft einfach ein, wenn ich in der Nacht davor nicht genug geschlafen hatte. Und auch heute fielen mir nach einer Weile wieder die Augen zu. Ich hörte dem Wind zu, der durch das Laub über mir wehte. Ich hörte das Geschnatter der Enten vom See und das leise Gemurmel eines Pärchens, das in ein paar Metern Entfernung ein Picknick veranstaltete. Die frische Luft tat mir wirklich gut …

Eigentlich hätte es ewig so weitergehen können. Die Monate vergingen, ohne dass ich es wahrnahm. Von heute auf morgen war Frühling, von morgen auf übermorgen war bereits Sommer. Beinahe unmerklich war dann schnell ein ganzes Jahr vergangen, danach noch eines.

Die ganze Zeit hatte ich Pine Heaven nicht ein einziges Mal verlassen. Ich fühlte mich für diese Stadt verantwortlich und hatte die Aufgaben übernommen, für die ich ausgebildet worden war. Einen Teil der Nacht verbrachte ich damit, über die Stadt zu wachen. Manchmal stieß ich dabei sogar auf den einen oder anderen Dämon, der es anschließend bereute, nicht einen großen Bogen um die Stadt gemacht zu haben. Tatsächlich war ich zum Beschützer Pine Heavens und seiner Einwohner geworden. Nach einer Weile hatten die Medien mich zu „Arcane“ gemacht, was so viel bedeutete wie „der Dunkle“ oder „der Mysteriöse“. Den Namen hatte ich wohl deswegen bekommen, weil ich mich, anders als meine Vorgängerin, eher bedeckt hielt und nur dann auftauchte, wenn es wirklich notwendig war. Die meiste Zeit versuchte ich, mich nicht blicken zu lassen. Dennoch war ich da, wenn ich wirklich gebraucht wurde. Es war blanke Ironie, denn ich fühlte mich genauso, wie ich genannt wurde. Mittlerweile hatte ich mich aber daran gewöhnt, so zu leben. Tatsächlich hätte es ewig so weitergehen können, bis mich eines Morgens meine Vergangenheit einholte, als zwei meiner Wächterkollegen vor meiner Tür auftauchten. Seit fast zwei Jahren hatte ich keinen von ihnen gesehen. Ich war nicht zu unseren jährlichen Treffen erschienen, und das aus gutem Grund. Sie hätten mich eigentlich hassen müssen, zumindest hätten sie mir unendlich böse sein müssen, aber als Serina und Chigal vor meiner Tür standen, schien es gar nicht so, als würden sie mich noch verurteilen. Trotzdem konnte ich ihnen genau ansehen, dass es auch für sie eine unangenehme Situation war. Sie wussten genauso wenig, wie sie anfangen sollten. Mit schuldbewusstem Blick standen sie vor mir und sahen mich kaum an.

„Was wollt ihr hier?“, brummte ich, während ich mir noch den Schlaf aus den Augen rieb. Ich war gerade erst aufgestanden und schon erwartete mich so eine Überraschung. Wenn der Tag so begann, wie sollte er dann bloß enden? Stöhnend fuhr ich mir einmal übers Gesicht.

„Wir haben nach dir gesucht. Es gibt da etwas, worüber wir mit dir reden müssen. Können wir reinkommen?“, antwortete Serina zögerlich. Widerwillig ließ ich die beiden Mädchen herein. „Hier wohnst du also?“, stellte Chigal fest, während sie sich umsah. „Ziemlich klein, meinst du nicht?“, wollte sie wissen. „Seid ihr nur hergekommen, um meine Wohnung zu kritisieren?“, seufzte ich. „Wir brauchen deine Hilfe als Wächter“, wechselte Serina gleich darauf das Thema. „Ich denke nicht, dass ich dafür der Richtige bin, ganz egal, um was es geht“, winkte ich ab und öffnete die Tür, um meine Kolleginnen wieder hinauszubitten. „Und ob du der Richtige dafür bist! Du bist ein Wächter des Schattentores, und genau den brauchen wir! Hast du denn nicht mitbekommen, was gerade vor sich geht?“, redete Serina auf mich ein, woraufhin ich bloß den Kopf schüttelte. „Na, wie denn auch, wenn du nicht zu unseren Treffen erscheinst? Seit zwei Jahren haben wir keinen von euch Schattenwächtern gesehen. Da ist es kein Wunder, wenn ihr nichts mitkriegt!“, regte sie sich  auf. „Sag schon, um was es geht“, brummte ich genervt. Genau das war der Grund, warum ich mich seither nicht mehr bei ihnen hatte blicken lassen. Ich wusste, dass es nur Ärger brachte, wieder auf die anderen zu treffen.

„Weißt du noch, als wir die Splitter des Schattentores als Wegweiser platziert haben?“, erinnerte Serina mich. „Wir haben doch herausgefunden, dass es das Gestein ist, welches den Durchgang zwischen den Welten bildet. Und jetzt rate mal: Jedes dieser Steinchen ist ein eigenes kleines Tor, das jeden Tag unzählige Dämonen hindurchlässt. Menschen verschwinden auf unerklärliche Weise, nachts sind seltsame Geräusche zu hören und es wurden Spuren gefunden, die nicht von einem normalen Tier stammen können. Es gibt bereits Theoretiker, die Vermutungen darüber anstellen, was das zu bedeuten hat. Also ehrlich, Kay, hast du denn keine Nachrichten gesehen oder hin und wieder mal Zeitung gelesen?“ „Wenn wirklich so viele Dämonen unterwegs sind, wieso halten sie sich dann von Pine Heaven fern? Hier sind nicht mehr Dämonen als sonst auch“, widerlegte ich Serinas Behauptungen. „Weil du ein Wächter bist, du Schlaumeier! Dämonen spüren, dass es hier gefährlich für sie ist! Oder glaubst du, sie riechen die winzigen Aschereste in der Nähe nicht?“, wurde ich gefragt. „Und was soll ich jetzt tun?“, fragte ich seufzend. „Na, was wohl? Du bist für den Frieden zwischen der Schatten- und der Menschenwelt verantwortlich, also kümmere dich um diese Angelegenheit“, verlangte Serina. Nun bekam ich also den gleichen Vortrag zu hören, den sich auch meine Vorgängerin einige Male anhören musste. Ich erinnerte mich noch gut daran, welchen Streit es dann immer gegeben hatte. Und jetzt konnte ich auch nachvollziehen, wieso. Es war nervig, dauernd Vorschriften zu bekommen. Gleichzeitig wusste ich aber, dass Serina recht hatte. Ich wusste um die Aufgaben, die ich als Schattenwächter zu erfüllen hatte. Außerdem war es das Vermächtnis meiner Vorgängerin. Nicht umsonst hatte sie mich ausgewählt, ihr Nachfolger zu werden. Ich wollte sie nicht enttäuschen …

„Dann müssen wir also alle Splitter einsammeln“, stellte ich fest. „Daran arbeiten wir schon, seit wir das erste Mal von dem großen Dämonenansturm gehört haben. Aber es fehlen immer noch viel zu viele davon. Insgesamt sind es 300, und wir haben gerade mal die Hälfte“, erklärte Serina weiter. „Was ist mit den anderen?“, wollte ich wissen. Eigentlich müsste man doch bloß denselben Weg gehen, den man auch damals gegangen war, oder etwa nicht? So schwer konnte das also nicht sein.

„Verschwunden“, antwortete Serina knapp. „Wie, verschwunden?“, hakte ich nach. „Na, verschwunden eben. Sie sind weg, unauffindbar“, wiederholte sie. „Wie zum Teufel können sie weg sein? Es sind Steine“, schmunzelte ich ungläubig. „Was weiß ich?! Sie sind einfach weg!“, rief Serina aufgebracht. „Und genau deswegen brauchen wir dich. Wir dachten, da du ein Wächter des Schattentores bist, findest du sie vielleicht“, übernahm Chigal. Noch nie hatte ich sie so friedlich und zurückhaltend erlebt. Sie war beinahe schon nett im Vergleich zu Serina, aber nur beinahe.

„Ich weiß nicht“, murmelte ich nachdenklich. „Was hast du denn zu verlieren?“, fragte Serina. Nun ja, zu verlieren hatte ich nichts, aber ich wollte keinen von den anderen wiedersehen. Eigentlich hätte ich nicht mal Serina und Chigal wiedersehen wollen, aber die beiden hatten mir ja keine Wahl gelassen.

„Also los, wir treffen uns zuerst mit den anderen bei den Toren für eine kurze Lagebesprechung. Immerhin hast du so einiges in letzter Zeit nicht mitbekommen“, murmelte Serina und trat, gefolgt von Chigal, zur Tür hinaus. Sie hatten mir nicht mal die Möglichkeit gelassen, nein zu sagen. Seufzend packte ich meine Siebensachen zusammen, bevor ich meinen Kolleginnen folgte. Unterwegs rief ich meinen Chef an, um ihm zu sagen, dass ich die Stadt überraschenderweise kurzfristig verlassen musste und deswegen nicht zur Arbeit erscheinen konnte. Zum Glück wollte er von mir gar keine plausible Erklärung hören. Ich hatte anscheinend sein volles Vertrauen, weswegen ich gleich darauf Schuldgefühle bekam. Und als wir Pine Heaven hinter uns ließen, überkam mich ein mulmiges Gefühl. Je weiter wir kamen, desto schlimmer wurde es. Dies war das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich sie alle wiedersehen sollte. Ob die anderen wohl Bescheid wussten? Vermutlich, sonst besprachen sie ja auch alles miteinander. Waren sie sich alle einig darin gewesen, mich zu holen? Hatte denn niemand irgendwelche Einwände gehabt? Oder hatte Nero einfach, wie sonst auch, alle überstimmt? Nero – gerade er musste doch eigentlich am meisten dagegen haben, mich wieder ins Team zu holen. Oder hatte sich in den vergangenen beiden Jahren alles wirklich so sehr verändert? Wie viel war passiert, während ich weg gewesen war?

Die nächsten Stunden verbrachten wir beinahe schweigend, während wir dem Ort, an dem alles endete, immer näher kamen. Schließlich standen wir vor dem Abgrund, der den Blick auf das bewaldete Tal freigab, das sich direkt darunter befand. Irgendwo dort hinten war es – unser Ziel. Ich wollte nicht weitergehen, aber was blieb mir schon anderes übrig? Nun, da ich schon so weit mitgekommen war, konnte ich nur schwer wieder umdrehen. Deswegen schluckte ich meine ganzen Sorgen hinunter und blendete für einen Moment lang alles aus, während sich der Nebel um mich herum verdichtete. Es war ein angenehmes Gefühl, von ihm eingehüllt zu werden. Es beruhigte mich, nicht gesehen zu werden, genauso wenig wie ich die anderen sehen konnte. Der Nebel schien alles zu verdecken und für sich zu behalten, ganz egal, was er auch gesehen hatte. Er schien mir fast wie ein alter Freund zu sein, der mich nach so langer Zeit wieder in seine Arme schloss. Aber ehe ich mich versah, war er auf einen Schlag verschwunden, als wir das Labyrinth, das diesen Ort schützte, hinter uns ließen. Vor mir eröffnete sich die vertraute altertümliche Steinplatte mit den vier Toren. Bloß eines davon schien etwas angegriffen zu sein – das Schattentor, das wir damals vergebens zu sprengen versucht hatten. Inmitten dieses Gebildes saßen Finn und Finnja, die gerade heftig in einen Streit verwickelt waren. Sie redeten wild durcheinander, sodass ich sie kaum verstehen konnte, als Chigal, Serina und ich vorbeigingen.

„Wir sind zurück“, versuchte Serina die beiden zu unterbrechen, aber sie wurde nicht mal eines Blickes gewürdigt. Ungeachtet dessen gingen wir weiter, während ich fragte: „Was haben die denn?“ „Gewöhn dich dran, die zwei sind schon eine ganze Weile so“, antwortete Serina knapp. „Und wieso?“, hakte ich nach. „Finn hat Finnja nie verziehen, dass sie uns während des Krieges im Stich gelassen hat. Seitdem streiten sie sich wegen jeder Kleinigkeit“, erklärte Chigal mit mürrischer Miene, während wir die zwei Streithähne hinter uns ließen. Anschließend klopfte Serina an der Tür der gemeinschaftlichen Hütte, die sofort aufgerissen wurde. Dahinter erschien Nero, der mir im ersten Augenblick einen Schrecken einjagte. Ich hatte ihn als lockeren, lustigen Typen in Erinnerung, aber jetzt gerade sah er ausgelaugt und erschöpft aus. Ein Stoppelbart zierte sein Gesicht. Dunkle Schatten waren unter seinen Augen zu erkennen, was darauf hindeutete, dass er schon seit Längerem nicht mehr geschlafen haben musste. Als sein Blick auf mich fiel, setzte er ein erleichtertes Grinsen auf.

„Kay! Wie gut es tut, dich zu sehen!“, rief er, während er mich im gleichen Atemzug fest an sich zog. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah oder was ich sagen sollte. Während ich mich sammelte, wandte Nero sich an Chigal und Serina.

„Gut gemacht, ich wusste, ihr schafft es“, sagte er, dann nahm er Chigals Gesicht in seine Hände und küsste sie. Ich hatte schon fast vergessen, dass die beiden ein Paar geworden waren.

„Ist Quirina schon zurück?“, fragte Serina. „Nein, noch nicht. Es kann aber nicht mehr lange dauern“, antwortete Nero ihr, bevor er das Thema wechselte.

„Ihr könnt uns jetzt allein lassen, alles Weitere übernehme ich“, schlug er vor. „Bist du sicher? Du solltest dringend mal schlafen. Ich mache mir schon Sorgen um dich“, warf Chigal ein. „Nicht nötig, mir geht’s bestens“, beharrte Nero mit einem beruhigenden Lächeln. Chigal lächelte zurück, wobei jedoch deutlich zu sehen war, dass sie ihm nicht glaubte. Serina hingegen schien auf das Zimmer hinter Nero fixiert zu sein. Sie lugte an ihm vorbei, um ins Innere sehen zu können.

„Sag mal, wo ist sie?“, wollte sie gleich darauf wissen. „Weg, wieder mal“, antwortete Nero verärgert. „Wieso ist sie weg?“, hakte Serina nach und stürmte sofort in die Hütte. „Was weiß ich? Ein unachtsamer Moment und schon …“, murmelte Nero sichtlich genervt. „Wer ist weg?“, hakte ich nach. „Später“, wimmelte Nero mich ab, als Serina wieder heraustrat. „Also schön, wer geht diesmal?“, fragte sie mit einem Seufzen. „Ich hab zu tun“, verneinte Nero sogleich. „Und ich war erst vor zwei Tagen dran“, protestierte Chigal. „Dann soll es einer von den Zwillingen machen. Vielleicht hören sie dann endlich mal auf zu streiten“, schlug Serina vor. Gemeinsam mit Chigal verschwand sie in Richtung der großen Steinplatte. Verwundert sah ich ihnen hinterher, bevor Neros amüsiertes Lachen meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst. Aber keine Sorge, ich werde dir schon alles erklären“, grinste er und legte einen Arm um meine Schultern. Sofort löste ich mich von ihm und fragte lauthals: „Ich verstehe das nicht, seid ihr denn gar nicht mehr wütend?!“ „Wäre dir das denn lieber?“, grinste er. Ich legte die Stirn in Falten, dann sagte er: „Nein, sind wir nicht. Es ist jetzt nun mal so und wir haben uns damit abgefunden.“ Ich schluckte, als ich das hörte. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder mich aufregen sollte. Einerseits wünschte ich es mir nicht, dass mich jemand hasste, aber andererseits hatte ich es verdient. Sie konnten mir doch nicht allesamt verziehen haben!

„Mach dir keine Gedanken, es ist alles okay“, versuchte Nero mich als Antwort auf meine nachdenkliche Miene zu beruhigen, bevor er das Thema wechselte. Er begann das Gespräch mit einem amüsierten Grinsen, dann sagte er: „Ich hab von Arcane gehört. Wie’s aussieht, bist du jetzt wohl selbst eine lebende Legende.“ „Tz“, machte ich. „Woher weißt du von dem Quatsch?“ Daraufhin konnte sich Nero ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Dachtest du etwa, diese Geschichte spricht sich nicht bis zu uns herum?“ „Hatte ich gehofft“, gab ich brummend zu. Mir passte es nicht, dass er davon wusste. „Komm, gehen wir ein Stück“, bat er mich. Ich folgte ihm, bis wir bei den Toren ankamen. Die beiden Streithähne von vorhin waren verschwunden, ebenso wie Serina und Chigal. Wohin waren sie alle gegangen?

„Serina und Chigal haben dich schon informiert, nehme ich an“, begann Nero erneut. „Über die Splitter des Schattentores, ja“, stimmte ich zu. „300 haben wir verstreut, 147 davon haben wir wiedergefunden. Die anderen sind bis jetzt unauffindbar. Wir nehmen an, dass sie von Dämonen mitgenommen wurden, die die Portale genutzt haben“, fuhr er fort. „Großartig“, brummte ich, als ich das hörte. Es galt also, 153 Dämonen ausfindig zu machen, sie alle zu besiegen und ihnen die kleinen Steine abzunehmen. Dabei wussten wir weder, wo sich besagte Dämonen aufhielten, noch welche von ihnen Steine besaßen. Klang ganz nach einem Kinderspiel!

„Ich denke nicht, dass ich euch dabei helfen kann“, schlug ich die Bitte, bei der Suche zu helfen, aus. „Sollst du auch gar nicht. Wir haben dich wegen etwas anderem kommen lassen“, eröffnete mir Nero in diesem Augenblick. „Okay, weswegen bin ich dann hier?“, wollte ich wissen. „Um die Arbeit zu übernehmen, die ich momentan ausführe. Ich brauche jemanden, der sich statt mir darum kümmert“, antwortete er. „Und was genau machst du?“, hakte ich nach. „Das kann ich dir noch nicht sagen“, ließ Nero mich abblitzen. „Ich hasse diese Geheimnistuerei! Ich habe sie schon immer gehasst! Also sag einfach, was zu sagen ist!“, verlangte ich verärgert. „Wenn ich das tue, dann würdest du abhauen. Du erfährst es, wenn die anderen wieder zurück sind. Ich hatte eigentlich erwartet, es würde alles glattgehen, sobald du da bist“, hielt Nero immer noch dicht. „Ich würde also abhauen? Fein, dann tue ich das sofort!“, zischte ich und machte mich augenblicklich auf den Rückweg. „Jetzt warte mal!“, rief Nero mir hinterher. „Nein, es ist besser, wenn ich mich gar nicht erst da hineinziehen lasse!“, knurrte ich. „Du würdest es bereuen, wenn du nicht bleibst“, sagte Nero, während er sich demonstrativ vor mich hinstellte. „Ach, ich dachte, ich würde abhauen!“, wiederholte ich seine Worte in spöttischem Ton. „Das würdest du auch, wenn du es erfährst, bevor es so weit ist. Aber du würdest es später bereuen, gegangen zu sein“, bekam ich zur Antwort. Mit misstrauischem Blick sah ich ihn an. Er verdrehte die Augen, setzte ein entnervtes Lächeln auf und ging anschließend an mir vorbei, zurück in Richtung Hütte.

„Komm schon, wir warten auf die Rückkehr der anderen“, schlug er vor. „Wer sagt, dass ich mitkomme?“, rief ich ihm hinterher. Daraufhin drehte sich Nero nochmals zu mir um, lächelte mich herausfordernd an und meinte anschließend: „Ich. Und jetzt komm, bevor ich dich dazu zwinge.“ Gleich darauf setzte er seinen Weg zur Hütte fort. Er zwang mich doch schon jetzt dazu, zu bleiben! Irgendetwas war schon wieder im Busch. Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn ich gegangen wäre, aber mein Gefühl sagte mir, dass ich noch warten sollte, bis ich wusste, um was es ging. Was für ein dummes Gefühl das doch war.

„Das darf doch alles nicht wahr sein“, knurrte ich, als ich Nero eine kurze Weile lang hinterhergesehen hatte. Ich hatte doch gewusst, dass es nur Ärger brachte, wieder auf die anderen Wächter zu treffen. Wieso war ich nicht einfach zu Hause geblieben? Ich hätte die Tür gar nicht aufmachen sollen, ich hätte lieber im Bett bleiben sollen.

Innerlich tobend schlich ich nun schließlich doch zur Hütte zurück. Und als ich sie betrat, empfing mich Neros triumphierendes Lächeln. Mürrisch ließ ich mich auf einen Stuhl fallen, während ich darauf wartete, dass die übrigen Wächter zurückkamen …

 

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Viel Spaß! 🙂